Die Natur verändert sich mit uns (English version: Exploring Next Nature)


by Koert van Mensvoort, published in Entry Paradise, Neue Welten des Designs, Gerhard Seltman, Werner Lippert (Editors), Birkhauser, ISBN: 3764376953.


Fast jeder liebt die Natur. Doch was heißt das eigentlich? Für manche verkörpert sie Harmonie, Konsequenz und Frieden. Für andere ist sie eher wild, brutal und unberechenbar. Natur stellen wir uns als vom Menschen unberührt, unangetastet vor. Paradoxerweise hat sich der Mensch jedoch gerade aus dieser Natur entwickelt. "Die Natur liebt es, sich zu verstecken" behauptete der vorsokratische Philosoph Heraklit [1] schon im 5. Jahrhundert vor Christus. Wenn es einen Ort gibt, der es verdient "natürlich" genannt zu werden, ist es die Welt in der sich die Menschheit vor sehr langer Zeit entwickelte. Diese Welt ist die Grundlage unserer Wahrnehmung von Realität und tatsächlich aller Informationen, die wir aufnehmen. Unsere menschliche Konstitution und unsere Sinne sind völlig an sie angepasst. Heutzutage ist diese Umwelt vollständig unserer Herrschaft unterworfen. Sie hat all ihre Ursprünglichkeit verloren. Wie natürlich ist es geworden, einen nine-to-five-Job zu haben und mit Anzug und Krawatte ins Büro zu gehen? Die Dächer über unseren Köpfen, die Stühle auf denen wir sitzen, sogar die Bäume im Wald - sie alle sind so, wie wir sie haben möchten. Wenn man sich umschaut und versucht, das natürlichste Objekt in der unmittelbaren Umgebung auszumachen, wird das höchstwahrscheinlich man selbst sein.


Für Tiere, die ihre eigene Welt nicht wie der Mensch radikal zu formen versuchen, bleibt die Natur immer Natur. Der Mensch hingegen begann, die Dinge seinem Willen zu unterwerfen. Indem wir unsere natürliche Umgebung mit einer Schicht aus Sprache, Technologie und Wirtschaft überziehen, haben wir unsere Lebenswelt verändert. Allgemein bekannte Meilensteine sind die Erfindung des Feuers, die Einführung der Landwirtschaft und der Viehzucht, der Einsatz mechanischer Produktionsweisen und der Aufstieg der Informationstechnologie, der zur heutigen technologischen Kultur geführt hat [2].


Indem wir unsere natürliche Umgebung mit einer Schicht aus Sprache, Technologie und Wirtschaft überziehen, haben wir unsere Lebenswelt verändert


Diese kulturelle Schicht funktioniert sehr gut und ist zu unserer Realität geworden. Eigentlich ist es schade, dass es damals keinen Nobelpreis gab, um jenen Urahn auszuzeichnen, der auf die Idee kam, einen Mantel aus Bärenfell zu machen, denn dieses höchst erfinderische Tier hätte ihn sicherlich verdient. Für zehntausende von Jahren war die menschliche Entwicklung auf das Schneckentempo genetischer Evolution beschränkt und wir machten uns die Vorteile vieler Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens lernten, nicht zunutze. Abgesehen von einigen seltenen Mutationen, sind die Gene, die wir an unsere Kinder weitergeben, mit denen unserer Urahnen identisch. Die kulturelle Evolution ist jedenfalls wesentlich schneller. Die Erfindung des Rads, des Fernsehers, der Atombombe, der Bratpfanne— sie alle sind äußerst wichtige Dinge, die niemand während seines eigenen Lebens allein hätte erfinden können. Manche behaupten, der Menschheit ginge es besser, wenn man diese Erfindungen wieder abschaffen würde [3]. Nachdem sie jedoch einmal Teil unseres Alltagslebens geworden sind, scheint es unmöglich, sich ein Leben ohne sie vorzustellen. In der Weiterführung der genetischen Evolution von Charles Darwin geht der Zoologe Dawkins davon aus, dass Replikation auch in der kulturellen Evolution passiere, jedoch in einem anderen Sinne. Er erfand die Bezeichnung "Meme" [5] als grundlegende Einheit der kulturellen Evolution.


Unsere Umwelt wird wieder zum Interface


Warum empfinden wir das Zirpen von Grillen oder den Klang des Meeres als angenehm im Gegensatz zum Geräusch, das zum Beispiel eine Maschine erzeugt? Gewöhnlich assoziieren wir Technologie nicht mit Frieden. Im Gegenteil, insbesondere die Informationstechnologie ist häufig das Gegenteil von Frieden und Natürlichkeit. Handy-Klingeltöne, Emails, Websites, Fernsehen und Radio - sie überlasten uns mit allen möglichen Arten von Daten. Aber bewirkt Technologie tatsächlich nur Stress und Unruhe? Tatsächlich gibt es viele Technologien, die uns Entspannung und Bequemlichkeit bescheren.


Die grundlegendsten Technologien sind jene, die verschwinden


Ein Paar Sportschuhe sind nicht zwangsläufig weniger raffiniert als eine Benutzeroberfläche [6]. Computer wurden ursprünglich entwickelt, um Kalkulationen für geschäftliche oder militärische Zwecke zu machen. Zunächst stand für ein ganzes Unternehmen lediglich ein Supercomputer zur Verfügung; heutzutage hat jeder Mitarbeiter seinen eigenen PC. Es ist noch nicht lange her, dass Computer in unsere persönliche Lebenswelt Einzug hielten. Bald wird jede Milchtüte einen enthalten. Das Forschungsinstitut der Vereinten Nationen prognostiziert, dass sich der Einsatz von Robotern im Haushalt zum Mähen des Rasens, Staubsaugen und Bewältigen anderer lästiger Pflichten in den nächsten drei Jahren versiebenfachen wird [7]. Häusliche Roboter werden in unserem privaten Umfeld zu vertrauten Begleitern avancieren. Und wenn Computer allgegenwärtig sind, können wir sie kaum alle selbst bedienen. Daher müssen sie sich selbst und untereinander bedienen. Der Radiowecker wird dem Wasserkocher und dem Toaster mitteilen, dass Sie aufgestanden sind und gleich frühstücken werden. Der Kühlschrank hat bereits Milch nachbestellt. Die Morgennachrichten sind auf Ihr Brot getoastet. Sobald Sie das Haus verlassen haben, wird der Staubsaugerroboter beginnen, das Haus zu reinigen.


Ihr Haus der Zukunft wird zu Ihren Diensten ein vollständiges ökologisches System bereithalten


Und wenn Sie abends nach Hause kommen und den Schlüssel in die Haustür stecken, weiß der Ofen, dass die Pizza jetzt gebacken werden muss. Ihr Haus der Zukunft wird zu Ihren Diensten ein vollständiges ökologisches System bereithalten [8]. Die grundlegendsten Technologien sind jene, die verschwinden. Sie gehen mit der Struktur des Alltagslebens eine Verbindung ein, die sie schließlich von diesem ununterscheidbar macht [9]. Schließlich empfinden wir einen warmen Wintermantel oder einen feinen Schreibfüller nicht als Technologie. Früher waren Maschinen sperrig, schwer und rostig, aber heute werden sie immer transparenter und sie strahlen so hell wie Sonnenschein. Unsere Umwelt wird wieder zum Interface.


DIE UNENDLICHEN KRÄFTE DER NATUR


Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur kann zusammenfassend als eines von Eroberung und Erobertwerden bezeichnet werden. Seit dem englischen Philosophen Francis Bacon [10] glauben wir offensichtlich, dass Wissen Macht ist. Das Prinzip des Fortschritts war nie zuvor so populär und so allgemein anerkannt [11]. Bacon war der Überzeugung, dass der Mensch mithilfe von wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen die Natur kontrollieren könne. Die Natur müsse gefoltert werden, um ihre Geheimnisse preiszugeben. Wenn Vögel fliegen können, warum sollte der Mensch nicht dazu in der Lage sein? Jahr um Jahr versucht der Mensch der Natur abzuringen, was er selbst nicht hat. Und zu welchem Zweck? Um ohne Natur überleben zu können? Wenn man sich ein Leben ohne Natur vorstellt... wäre das überhaupt möglich? Ich glaube nicht.


Und wenn Computer allgegenwärtig sind, können wir sie kaum alle selbst bedienen. Daher müssen sie sich selbst und untereinander bedienen


Während er mit den Kräften der Natur kämpft, wird der Mensch immer unabhängiger von den physikalischen Bedingungen. Zugleich wird er immer abhängiger von technischen Mitteln, von anderen Leuten und von sich selbst. Man bedenke nur welche Abhängigkeiten mit dem Fahren eines Autos einhergehen. Es müssen Schnellstraßen vorhanden sein für die man Kraftfahrzeugsteuern zahlt. Die Benzinversorgung muss geregelt sein. Und wenn man sich erst auf der Straße befindet, muss man sich konzentrieren, sonst gibt es einen Autounfall. Man muss Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer nehmen und schließlich braucht man einen Führerschein. Und all das ist nur notwendig, um deinen Körper von A nach B zu bewegen und etwas Zeit zu sparen. Die Unabhängigkeit von physikalischen Gegebenheiten geht einher mit sozialer und geistiger Abhängigkeit. Äußerst präzise und produktive Maschinen erfordern häufig äußerst präzise und produktive Menschen, die sie bedienen. [12]. Die Dinge, die wir entwickeln, manipulieren am Ende nicht selten unser Leben.


Ein anderes Beispiel: Ein Kühlschrank ist ein sehr praktisches Gerät, das uns dabei hilft, Lebensmittel frisch zu halten. FCKWs sind beständige industrielle Gase, die in Kühlmitteln, Kühlschränken, synthetischen Schaumstoffen und verschiedenen Spraydosen enthalten sind. FCKWs haben der Ozonschicht so großen Schaden zugefügt, dass diese bedrohlich dünn geworden ist. Das Loch in der Ozonschicht wurde 1985 entdeckt. Zunächst dachten die britischen Wissenschaftler der Halley Bay Forschungsstation in der Antarktis, als sie die Ergebnisse ihrer Messungen analysierten, dass mit ihren Instrumenten etwas nicht stimmen könne. Nachdem diese ausgetauscht waren, waren die Ergebnisse nicht weniger alarmierend als vorher. Als ihre Erkenntnisse in der Zeitschrift Nature [13] veröffentlicht wurden, war klar, dass dringender Handlungsbedarf bestand. Die Ozonschicht schützt Menschen und Tiere vor der gefährlichen ultravioletten Strahlung der Sonne. Wenn diese schützende Schicht verschwindet, wird dies dramatische Konsequenzen für uns alle haben. Anhaltendes ungeschütztes der Sonne ausgesetzt sein verursacht Hautkrebs. Der Erfinder des FCKW-Kühlschranks hat vielleicht niemals etwas von der Ozonschicht gehört.


Die Dinge, die wir entwickeln, manipulieren am Ende nicht selten unser Leben


Allen unseren Bemühungen und Experimenten zum Trotz, lässt sich das Leben doch nicht so einfach gestalten. Jedes Mal wenn die Natur beherrscht zu sein schein, erhebt sie sich an anderer Stelle als unerbittlicher Gegner. Daher ist der Kampf zwischen Mensch und Natur unendlich. Die Natur liebt es, sich zu verstecken. Und es ist nicht nur der Mensch, der sich entwickelt, denn im Prozess der Evolution hält die Natur Schritt. Ich bin der Ansicht, dass es vielleicht besser ist, wenn man die Natur nicht als statisches Gebilde, sondern als dynamische Kraft auffasst, die sich jenseits unserer Definitionsmöglichkeiten befindet - eine Kraft außerhalb unserer Reichweite, mit der wir uns aber ständig auseinandersetzen müssen. Oder mit anderen Worten: Vielleicht sollten wir die Natur als permanenten Sparringpartner in unserer Entwicklung begreifen.


Die Biologie der Technologie


Aus unserem Biologieunterricht kennen wir alle das evolutionäre Prinzip: der Affe, der aufrecht zu gehen beginnt, sein Haarkleid verliert und zum menschlichen Wesen wird. Aber etwas stimmt an diesem Bild auf grundlegende Weise nicht und keiner scheint es zu merken: dieses menschliche Wesen ist nackt! Das ist im Prinzip so «unnatürlich" wie ein jonglierender Affe im Clownskostüm.


Vielleicht sollten wir die Natur als permanenten Sparringpartner in unserer Entwicklung begreifen


Welches Tier ist so dumm, nackt und schreiend auf diese Welt zu kommen, vollkommen verletzlich, hilflos und leichte Beute für jeden Feind? Jedes neugeborene Lamm oder Giraffenbaby kann innerhalb von wenigen Stunden laufen, aber der Mensch braucht viele, viele Jahre bis es für sich selbst sorgen kann. Daher ist es mehr als verwunderlich, dass der Mensch es trotz seiner physischen Verletzlichkeit geschafft hat, die Welt weiterhin zu dominieren. Im Vergleich zu anderen Lebewesen ist der Mensch schlecht angepasst, primitiv und unterentwickelt. Dennoch war er unter all diesen Tieren, die besser ausgestattet sind als er, fähig zu überleben. Andere Tiere haben spezielle Organe, Fähigkeiten und Reflexe, die es ihnen ermöglichen, in ihrer eigenen zugehörigen Umwelt zu überleben. Anders als die Tiere, wurde jedoch der Mensch nie einer Umwelt ausgesetzt für die er mit bestimmten Merkmalen ausgestattet wäre. Die Konstitution des Menschen impliziert, dass es so etwas wie eine vollständig natürliche Umwelt nicht gibt, das heißt der Mensch ist ein Kulturwesen [14].


Daher ist der Kampf zwischen Mensch und Natur unendlich


Unser Bild der Natur ist, um ehrlich zu sein, ziemlich naiv und bedarf sicherlich einer Neubetrachtung. An unterschiedlichen Orten in den Niederlanden werden prähistorische Wälder geschaffen: unser Bild unberührter Natur wird in einer Art Echtzeitsimulation sorgfältig rekonstruiert [15]. Das Grüne Herz (ein bekanntes Naturschutzgebiet in den Niederlanden) ist eigentlich eine landwirtschaftlich und industriell geprägte Zone aus dem 15. Jahrhundert. Ein Mädchen aus der Stadt, das sein Haar regelmäßig mit Kiefernnadelshampoo wäscht, geht eines Tages mit seinem Vater im Wald spazieren. Plötzlich sagt sie: "Papa, der Wald riecht wie Shampoo" [16]. Ein solches Mädchen könnte sicherlich Unternehmenslogos besser voneinander unterscheiden als Baum- oder Vogelarten. Desto mehr wir im Sinne von Symbolen denken und handeln, desto mehr verlieren wir den Bezug zu unserer physischen Realität [17]. War Mondrians Bild [18] schließlich doch der Vorläufer des ultimativ natürlichen Bildes?


Wilde Systeme


Im Verlauf der letzten Jahrhunderte ist unsere Weltsicht immer wirklichkeitsbetonter geworden im Sinne von ihrer Übereinstimmung mit der Wahrheit, aber vor allem im Sinne von eindeutig und gegliedert. Wir glauben zu wissen, wie die Dinge funktionieren: unsere Realität ist zu einer Ansammlung von Fakten geworden. Die Menschheit schaut nicht länger in ehrfürchtiger Verwunderung zum Mond und den Sternen. Wir haben uns von der Vorstellung befreit, dass unsere Umwelt von mysteriösen Kräften, Geistern und Dämonen beherrscht wird. Max Weber hat dies in Anspielung auf die Tatsache, dass die vormoderne Welt nachhaltig von Schicksalsschlägen geprägt war, denen die Menschen machtlos gegenüber standen, sehr treffend als die "Entzauberung der Außenwelt" [19] bezeichnet. Das Schicksal kann einen zerstörerischen Einfluss auf unser Leben haben, aber es kann genauso gut unser Leben in eine bessere Richtung lenken. Nach der Modernisierung der Welt fand sich der Mensch in einer wesentlich rationaleren Welt wieder, in der alles systematisiert oder kalkuliert ist. Es werden bürokratische Strukturen sowie Steuerungsmodelle und Strategien entwickelt, um eine erfolgreichere Welt zu schaffen. Die Rhetorik der Entscheidungsfindung ist zunehmend von rationalem Denken gesteuert und Logos scheinen unsere Kultur zu dominieren. Und wenn wir von Mythos reden, meinen wir oft, dass etwas völliger Quatsch ist. Der größte Mythos unserer Zeit ist jedenfalls der Primat des Logos.


Die Konstitution des Menschen impliziert, dass es so etwas wie eine vollständig natürliche Umwelt nicht gibt, das heißt der Mensch ist ein Kulturwesen


Systeme funktionieren selten so, wie sie von ihren Erfindern gedacht waren. Die Management-Missetaten in multinationalen Konzernen wie Enron [20], Kmart und WorldCom [21] hat die entsprechenden Anteilseigner kalt erwischt und sich als wahrhaftige Katastrophe erwiesen. Ironischerweise können wir uns vor Überflutungen, Erdbeben und Tornados schützen, aber wir sind angesichts solcher Bilanzfälschungsskandale völlig machtlos. Erst kürzlich erfuhren wir, dass die Ölreserven von Shell viel kleiner zu sein scheinen als ursprünglich vorhergesagt. Das war nicht der Fehler der Ölreserven; ganz im Gegenteil, es war ein Fehler des Shell-Managements [22]. Systeme sind die Produkte von Kultur; doch sie können uns über den Kopf wachsen und uns zwingen, sie zu "rekultivieren".


In Zukunft wird es vielleicht keine Naturkatastrophen mehr geben. Genauer betrachtet ist dies vielleicht jetzt schon der Fall. Nach jeder Katastrophe beginnen wir, nach einem Sündenbock in Form einer bürokratischen Institution zu suchen. Waren die Deiche nicht hoch genug? Wer ist für die Erdbebensicherheit dieses Gebäudes zuständig? Naturkatastrophen sind zu kulturellen Katastrophen und organisatorischen Störfällen geworden und wir werden in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch viele erleben. Systeme kennen mitunter keine Rücksicht und sind gnadenlos.


Unsere nächste Natur


"Vor ein paar Wochen ging ich im Wald spazieren und begegnete dem größten Hasen, den ich je zuvor gesehen hatte. Er war wegen des herannahenden Winters schon fast weiß und wir standen Auge in Auge für diesen kurzen und netten Moment - zwei Kreaturen die in wechselseitiger Neugier aufeinander treffen. Was wird uns die Begegnung mit einem Hasen im Wald noch bedeuten, wenn genetisch manipulierte 'Hasen' erst einmal allgegenwärtig sind. Warum sollten wir für solch einen Hasen mehr empfinden oder einen größeren Bezug zu ihm haben als zu einer Cola-Flasche?" Auf diese Weise erzählt uns Bill McKibben in seinem Buch "The End of Nature" von seiner mythischen Begegnung mit einem weißen Hasen im Wald. [23].


Schauen wir uns das Ganze aus unserer eigenen Perspektive an: die Natur als menschliche Erfahrung. Die Assoziationen, die die meisten Leute mit der Vorstellung von Natur verbinden, können mit Begriffen wie unendlich, unzugänglich, überwältigender Macht, ursprünglich, wild und furchterregend zusammengefasst werden [24]. Wo aber können wir diese Art von Natur heute finden? Im Park am Stadtrand? Oder auf der Fensterbank wo die Katze selig döst? Wahrscheinlich nicht. Unsere nächste Natur wird aus kulturellen Produkten entstehen, die so komplex geworden sind, dass die einzige Beziehung, die wir zu ihnen knüpfen können auf dem Verhältnis von Mensch-Natur beruht. Es wird vielleicht sogar einen Zeitpunkt geben, wenn unser Bezug zu einer industriell gefertigten Cola-Flasche reicher und mythischer ist als unsere Beziehung zu einem genetisch analysierten und manipulierten Hasen im Wald.


Wir müssen eine neue symbolische Bedeutung der Dinge erfinden


Tatsächlich tauschen die Begriffe von Natur und Kultur die Plätze. Die Natur, oder was wir damit bezeichnen, wird mehr und mehr durch den Menschen beherrscht. Natur im Sinne von Bäumen, Pflanzen, Tieren, Atomen oder Klima hat sich in eine Art kulturelle Kategorie verwandelt. Zugleich neigen kulturelle Produkte, die wir gewöhnlich steuern konnten, dazu, uns mehr und mehr über den Kopf zu wachsen. Diese natürlichen Kräfte scheinen sich auf ein anderes Feld zu verlagern. Unsere nächste Natur wird aus etwas bestehen, das bislang kulturell war, auch wenn dies die Tatsache nicht verändert, dass dies immer noch eine "echte" Form von Natur ist. Keine Repräsentation oder Simulation eines längst verloren gegangenen Phänomens. Im Gegenteil, sie ist so echt wie sie nur sein kann und hat alle Funktionen, Bestandteile und Möglichkeiten des alten natürlichen Phänomens. Wilde Systeme, genetische Ãœberraschungen, ruhige Technologie, autonome Maschinen und wunderschöne schwarze Blumen.


Wir scheinen in einen Zaubergarten einzutreten, der uns vielleicht erstaunt oder befremdet oder uns niederschlägt oder uns wohlgesonnen ist. Wir müssen allen Dingen einen Sinn geben, um unseren Ort in der Welt zu bestimmen; wir müssen eine neue symbolische Bedeutung der Dinge erfinden. Wie neugeborene Kinder wandern wie durch unsere eigene Schöpfung. Grüneres Gras, daran gewöhnt man sich. Natürlich bin ich ein Naturmensch.


Danksagungen


Der Autor möchte Mieke Gerritzen und Berry Eggen danken, die frühere Versionen dieses Textes auf hilfreiche Weise kommentierten sowie Geert Lovink für seine Hilfe bei der Terminologie.


Literaturnachweis


1. Heraklit (540 - 480 v.Chr.): Über die Natur, fr. 208: "Die Natur liebt es, sich zu verstecken". (Heraklit verfasste eine philosophische Arbeit mit dem Titel Ãœber die Natur, die er im Tempel von Artemis und Ephesos deponierte (Diogenes, Lives, 9. 6). Der Text ist als Ganzes nicht erhalten, es sind nur Zitate davon in den Texten anderer Autoren überliefert.

2. Schwarz, Michiel., Jansma, Rein, Hrsg. The Technological Culture. Amsterdam: De Balie, 1989.

3. Zerzan, John: Future Primitive. Colombia, Anarchy Magazine, 1994

4. Darwin, Charles: On the Origin of Species. London, 1895.

5. Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, Heidelberg, 1978

6. Weiser, M., Brown, J. S. Designing calm technology. PowerGrid Journal, Band. 1, Nr. 1, 1996.

7. United Nations Economic Commission for Europe. World Robotics 2004 - Statistics, Market Analysis, Forecasts, Case Studies and Profitability of Robot Investment, ISBN No. 92-1-101084-5, 2004

8. Dix, A. (2002). Managing the Ecology of Interaction. Proceedings of Tamodia 2002 - First International Workshop on Task Models and User Interface Design (Bukarest, Rumänien, 18-19 Juli 2002), C. Pribeanu, J. Vanderdonckt (Hrsg.). INFOREC Publishing House, Bukarest. ISBN 973-8360-01-3. S. 1-9

9. Weiser, M. The computer of the 21st century. Scientific American, S. 94--100, September 1991.

10. Bacon, F. New Atlantis, Kila : Kessinger, s.a, 1626.

11. Condorcet. On the Future Progress of the Human Mind. Modern History Sourcebook, 1794 (französische Originalversion: Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, marquis de Condorcet. Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain, Paris: Masson et Fils, 1822)

12. Schelsky, Helmut. Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Köln: Westdeutscher Verlag, 1961.

13. Farman, J. C., B. G. Gardiner und J. D., Shanklin, Large losses of total ozone in Antarctica reveal seasonal ClOx/NOx interaction. Nature, 315, S. 207-210, 1985.

14. Gehlen, A. (1988): Der Mensch. Seine Stellung in der Welt. Frankfurt, 1966.)

15. Metz, Tracy. Nieuwe natuur. Reportages over veranderend landschap (New Nature, Reports on a changing landscape). Amsterdam: Ambo, 1998.

16. van Mensvoort, Koert. Shampoo Generation (The Woods smell of Shampoo). Amsterdam: All Media, ISBN: 90-806455-3-2, 2004.

17. Cassirer, Ernst. An Essay on Man. Yale University Press, 1944.

18. Mondriaan, P., Blok, C. Mondriaan in de collectie van het Haags Gemeentemuseum: catalogus 1968, S.l. : Haags Gemeentemuseum, 1968.

19. Weber, Max. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Tübingen, 1924

20. Jickling, Mark. The Enron Collapse: An Overview of Financial Issues. CRS Report for Congress, Bestellcode RS21135, 2002.

21. Patsuris, Penelope. The Corporate Scandal Sheet. New York: Forbes.com, 2002.

22. Messenger, Terry. Oil giant Shell's investors shocked. BBC News UK, 15 Juli, 2004.

23. McKibben, Bill. (1989): The End of Nature. New York: Random House.

24. Larsen, S. E. Is Nature Really Natural? Landscape Research 17(3), S. 116-122, 1992.

Schlagwörter


Nächste Natur, Medienökologie, natürliche Interfaces, Phänomenologie, Hyperrealität, autonome Maschinen, ruhige Technologie, genetische überraschungen, wilde Systeme, Re-Kultivierung

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